Mehr Zeit zum Leben

Heute ist mir ein höchst bedenkenswerter Beitrag im einem Forum begegnet. Es handelt sich um ein Forum von Kaffeefreunden, welche ihr Getränk vorzugsweise mit Hilfe von Siebträgern oder Handaufguss erzeugen. In einer Diskussion berichtete eine Forumsteilnehmerin, dass sie aus Zeitgründen vom Siebträger zum „Knopfdruck-Kaffee“ (Nespresso) umgestiegen ist. Was bei den eingefleischten Liebhaber/innen des Kaffees nicht unbedingt auf Zustimmung gestoßen ist. Eine der vielen Antworten lautet (auszugsweise):

„Bei dir ist es zumindest eine Entscheidung mit der Kenntnis, dass es besser geht. Dir ist die Arbeit für “das bisschen besseren Geschmack” zu nervend. Bei mir ist es genau umgekehrt: Ich freue mich nach dem Aufstehen und nach Feierabend auf einen, oder mehrere Espressi/Cappuccinos. Als erstes wird frisches Wasser eingefüllt und die Maschine eingeschaltet. Die „Wartezeit“ ist für mich keine Wartezeit im negativen Sinn (ich könnte ja auch eine Zeitschaltuhr einsetzen) sondern Zeit der Vorfreude.  Ich genieße dann die Zeremonie der Zubereitung, angefangen vom Duft beim Mahlen des Kaffees entsteht, bis zu dem “Erlebnis” wenn der Espresso in die gerade unter den Siebträger gestellten warmen dickwandigen Tassen fliesst. Vom Genuss eines optimal zubereiteten Espresso oder Cappuccino brauche ich dir nicht vorzuschwärmen.

Leider wissen die meisten gar nicht was Ihnen entgeht. Das sieht man an den Regalen im Supermarkt. 2 Meter Nespresso, keine ganzen Bohnen, Fertigessen und Aufbackbrötchen so weit das Auge reicht. In vielen Bereichen kennen die meisten gar nicht mehr den möglichen Geschmack.“

Hier hat jemand aus meinem Herzen gesprochen. Besser kann man das nicht sagen. Ich zähle mich ebenfalls zu den Anhängern des Siebträgers. Es fängt schon mit der Auswahl der Kaffeebohnen an, mit dem Gespräch darüber beim Lieferanten. Das Ritual der Herstellung ist mindestens mit ebensoviel Freude verbunden wie der Genuß des Getränks.

Umso betrüblicher ist es für mich festzustellen, wie im Laden die Regal-Laufmeter mit bunt eingepackten, fertig zubereiteten Lebensmitteln immer mehr werden. Auf Kosten von frischem Gemüse, von frischem Obst. Heute klagen die Gemüsebauern zurecht darüber, dass z.B. die beiden Schweizer Großverteiler Migros und Coop die Preise für die Ware diktieren. Es ist ein unerbittlicher Preiskampf unter den Großverteilern ausgebrochen. Er wird auf dem Rücken der Produzenten ausgetragen.

Vor ein paar Monaten hat ein Schweizer Lebensmittelhändler (Migros) eine Plakatkampagne gestartet, mit einem Bild von einem Mikrowellen-Futter – irgendetwas Asiatisches – und den Worten „Anna’s Best – Mehr Zeit zum Leben“. Jetzt frage ich mich: Was ist Leben? Gehört die Freude am Zubereiten eines Essens, von Grund auf, aus natürlichen Produkten, denn nicht zum Leben? Ist vielleicht Fernsehen ein wichtigerer Teil des Lebens?

(26.06.2008)